Die griechische Insel Lesbos, nur wenige Kilometer vom türkischen Festland entfernt, ist die Heimat der antiken Lyrikerin Sappho und wird oft auch als Insel der Frauen bezeichnet. Es liegt ein gewisser Zynismus in der Tatsache, dass genau diese Insel über die Jahre ein Freiluftgefängnis wurde, in dem Zehntausende Frauen interniert wurden. 2020 war das Dunya Collective für eine einjährige Recherche auf Lesbos. Die Ausstellung im Theaterfoyer zeigt Bilder und vermittelt Eindrücke dieses Aufenthaltes. Die Ausstellung fokussiert auf die weiblichen Schutzsuchenden, auf ihre Lebens- und Leidensgeschichte. Lesbos wurde für viele Frauen zum Trauma, ein Trauma, das sie ihr Leben lang begleiten wird.
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Frauen gehören zu den besonders vulnerablen Gruppen unter Flüchtenden. Oft versuchen sie genau jenen Verhältnissen zu entfliehen, die sie auf ihrer Flucht erleiden müssen: (sexualisierte) Gewalt, (sexuelle) Ausbeutung, Menschenhandel und Diskriminierung. Nach Lesbos kommen sie aus Ländern wie Afghanistan, Syrien, Irak, aber auch aus dem Kongo und Somalia. Die Nähe zur Türkei ist der Grund, dass die Insel eine Zwischenstation auf der Flucht nach Europa wird. Nach einer lebensgefährlichen und extrem strapaziösen Überfahrt, an den Stränden der Insel, an den Toren Europas, mit so viel Hoffnung auf ein besseres, freieres Leben angekommen, müssen viele feststellen: Es geht nicht weiter. Diese Insel ist ein Abstellgleis, ein »Hafen der verlorenen Seelen«, wie es unter alteingesessenen Inselbewohner:innen auch heißt. Lesbos ist spätestens seit dem »langen Sommer der Migration« im öffentlichen Bewusstsein mit globalen Migrationsbewegungen verbunden.
Über eine Million Schutzsuchende erreichten Griechenland allein in den Jahren 2015 und 2016 auf dem Seeweg. Heute ist das mediale Interesse, für das, was auf dieser Insel geschieht, erneut an einem Tiefpunkt angelangt. Doch die Flüchtenden kommen weiter an, auch wenn die Weltöffentlichkeit ihnen und mit ihnen, den vom Helfen erschöpften Bewohner:innen der Insel abermals den Rücken kehrt. Gleichwohl ist die Zahl der Ankommenden stark gesunken. Das liegt vor allem an Pushback-Aktionen von Frontex und der griechischen Küstenwache. In viel zu kleinen, wackeligen Schlauchbooten überqueren Schutzsuchende die Meerenge zwischen dem türkischen Festland und der Insel. Ob sie es bis zur Insel schaffen, hängt natürlich auch davon ab, ob sie von Frontex und der griechischen Küstenwache entdeckt werden. Geschieht dies, werden sie oft Opfer brutaler Pushback-Operationen. Dabei werden die Boote gestoppt und die Motoren zerstört. Anschließend schleppt man das manövrierunfähige Boot in türkisches Gewässer zurück und überlässt es sich selbst. Aber selbst wenn auf dem Festland angekommen, ist niemand in Sicherheit. Vermummte Männer in schwarzen Uniformen ohne Kennzeichnung könnten sie festsetzen, fesseln, in Autos verschleppen und zu Schiffen der Küstenwache fahren. Dann geht es wieder auf das Meer. In Rettungsinseln gepfercht, werden sie einfach auf dem offenen Meer ausgesetzt.Journalistische Recherchen und entsprechendes Videomaterial beweisen dieses brutale Vorgehen. Geändert hat dies jedoch kaum etwas. Zu groß ist das Interesse der EU, die Grenzen geschlossen zu halten. Die europäischen Machthaber:innen nennen diese Maßnahmen robuste Grenzsicherung. Eine verachtenswerte Menschenjagd, die internationales Recht bricht, sagen jene, die noch nicht verroht sind. Haben es diese Menschen dann trotz aller Gefahren geschafft, auf Lesbos anzukommen, bringt man sie an einen Ort, den viele Flüchtende 2020 als »die Hölle von Moria« bezeichneten. Ein in Hochzeiten mit über 20.000 Menschen überfülltes Lager. Damals das größte und wohl schlimmste
in Europa. Dort werden sie bis zum Entscheid über ihren Asylantrag interniert. Es vergehen oft Monate, in manchen Fällen sogar Jahre, bis eine Entscheidung feststeht. Doch oft vergehen selbst nach positiven Bescheiden Wochen bis Monate, damit die Behörden die Papiere zum Verlassen der Insel ausstellen. Es ist eine Gefangenschaft in einer schier endlosen Warteschleife. Während dieser Zeit sind gerade Frauen massiver Gewalt und menschenunwürdigen hygienischen Bedingungen, die im Lager herrschen, ausgesetzt. Es gibt kaum sanitäre Einrichtungen, Krätzeepedemien, keine Versorgung mit Hygieneartikeln, überall Ratten und Müll. Dazu kommt, dass Moria auch ein Raum der physischen Gewalt war. Eine Minderheit der Insassen, organisiert in Banden, terrorisierte die große Mehrheit der Geflüchteten durch Diebstahl, Übergriffe, Schlägereien, Messerstechereien und Vergewaltigungen. Frauen und Kinder trauten sich im Dunklen nicht aus ihren Zelten, um auf die Toilette zu gehen. Zu groß war die berechtigte Angst, Opfer sexualisierter Gewalt zu werden. Von der Polizei war keine Hilfe zu erwarten. Im Gegenteil: Frauen, die sexuellen Missbrauch anzeigen wollten, wurden ausgelacht. Geflüchtete berichteten von öffentlicher Demütigung durch Polizist:innen aufgrund ihrer Hautfarbe, Religion oder sexuellen Orientierung. Die Gewalt, die solch eine Sortier- und Abschreckungsmaschine für Schutzsuchende bereithält, ist extrem. Eine Gruppe aus (Sozial-)Psycholog:innen und Jurist:innen erfasste diese Realität in einer Studie mit 160 Geflüchteten und kam zu dem Ergebnis, Moria als Ort der Folter zu klassifizieren: »Zeitgenössische Folter zeigt sich nicht immer in äußeren Narben und körperlichen Spuren. Sie zeigt sich durch ein gewaltsames Brechen der Persönlichkeit und Identität, verursacht durch die Unterwerfung unter Bedingungen der Hoffnungslosigkeit und Hilflosigkeit, durch ein Gefühl des absoluten Verlusts der Kontrolle über das eigene Leben, allgegenwärtig in den kleinsten Details des Alltagslebens«.
Die Technokraten der EU nennen diese Orte schlicht Erstaufnahmeeinrichtungen. Und auch wenn das Lager im September 2020 vollständig niederbrannte, bleibt diese Hölle als Prinzip der Abschottung Europas erhalten. Nach dem Brand wurde ein neues, improvisiertes Lager errichtet. Es liegt direkt an der Küste, Wind und Wetter ausgesetzt, ohne ausreichende hygienische Versorgung, mit nur wenigen Heizmöglichkeiten für den Winter und einer generell unzureichenden Infrastruktur. Man zwang die Menschen in dieses neue Lager mit einem stark regulierten Zugang. Auch der Presse war es ab diesem Zeitpunkt kaum noch möglich, in das Lager zu gelangen, um unabhängig zu berichten.
Mit EU-Geldern wurde in den letzten drei Jahren mitten im Nirgendwo, unweit einer Mülldeponie, ein neues Internierungslager errichtet. Es ist ein »Closed Controlled Access Center«, das wie ein Gefängnis konstruiert ist: meterhohe doppelte Zaunreihen mit Stacheldraht, Kameraüberwachung, Fingerabdruck-Scanner an den Toren und Polizeipatrouillen. Der Brand 2020 hat die EU dazu bewegt, noch härter gegen Flüchtende vorzugehen. Die Zahl der Pushbacks stieg rasant an, die Grenzen werden weiter militarisiert und Geflüchtete interniert. Die GEAS-Reform sieht nun vor, die katastrophalen Bedingungen, die in Flüchtlingslagern an den Außengrenzen herrschen, in noch größerem Umfang in sichere Drittstaaten auszulagern. Frei nach dem Motto aus den Augen, aus dem Sinn. Gegen diese Tendenz möchte die Ausstellung des Dunya Collectives zum Hinsehen auffordern und zum Nachdenken anregen. Denn es liegt es an uns, etwas an diesen Zuständen zu ändern.
Das Dunya Collective ist ein unabhängiges Medienkollektiv, das sich auf die künstlerische Aufbereitung von politischen und sozialen Themen fokussiert hat. Ihr Ziel ist es, komplexe Themen durch den Einsatz von Kunst zugänglicher zu gestalten. Neben Grafiken, die sie mit journalistischer Arbeit kombinieren, produzieren sie auch Videointerviews, kleine Reportagen. Kürzlich habe sie ihr Repertoire um Fotojournalismus erweitert. Außerdem organisieren sie Kinoveranstaltungen mit Filmgesprächen, Ausstellungen und Vorträge.
Quelle: Societätstheater